„You better wake up. The world you live in is just a sugar-coated topping. There is another world beneath it — the real world. And if you want to survive it, you better learn to pull the trigger!“
– Blade in „Blade“
Diese Stadt stank, und zwar sowohl metaphorisch als auch wortwörtlich. Das fing bereits auf dem Bahnhof an, den Silver Cross gerade zu verlassen gedachte. Zwar wirkte dieser auf den ersten Blick wie ein ganz gewöhnlicher Bahnhof einer Großstadt, doch wenn man genauer hinsah, stellte man fest, dass er noch weitaus heruntergekommener erschien, als das bei Einrichtungen dieser Art üblicherweise der Fall war. Beinahe jede Wand war mit Graffitis vollgesprüht, der Boden war fleckig und klebrig und die obligatorischen Geschäfte, die Zeitschriften, Backwaren oder ähnliches, das Reisende in aller letzter Sekunde zu kaufen pflegten, anboten, waren muffig und ungemütlich. Am schlimmsten jedoch war der Geruch, eine süßlich-widerliche Mischung aus abgestandenem Tabakqualm, Erbrochenem und Urin.
Da Silvers Blase schon seit einer halben Stunde unangenehm drückte und er es ablehnte, in Zügen zu pinkeln, hatte er einen Blick ins Bahnhofsklo geworfen, daraufhin allerdings beschlossen, dass er es noch eine Weile aushalten konnte. So etwas wie dieses WC hatte er wahrlich noch nie gesehen.
Natürlich, dieser Bahnhof war weder der größte noch der wichtigste von Angel City, aber dennoch hätte man doch ein wenig mehr auf ihn achten können.
Silver trat ins Freie hinaus, doch leider wurde es nicht wirklich besser. Ein selbst für diese Jahreszeit recht kalter Wind schlug ihm entgegen, der eine Vielzahl von Geräuschen transportierte: Verkehrslärm, Hafengeräusche, wildes Gefluche und das nervige Gekrächze von Möwen. Der Uringestank war inzwischen einem penetrantem Fischgeruch gewichen.
Obwohl Silver noch keine Stunde in Angel City weilte, konnte er jetzt schon sagen, dass er diese Stadt hasste. Aber was sein musste, musste eben sein.
Nachdenklich schaute er sich um. Wenigstens schien er am richtigen Ort innerhalb dieser Stadt gelandet sein. Man hatte ihm gesagt, dass er seinen Kontaktmann in der Nähe des Bahnhofs im Hafenviertel treffen sollte. Dummerweise hatte man ihm nicht gesagt, wer diese Kontaktperson war.
Die Umgebung des Hafens wirkte äußerst ungemütlich und wurde hauptsächlich von grauen Plattenbauten, Lagerhäusern und Kränen dominiert. Die Luft war diesig, was die Umgebung noch grauer wirken ließ, als sie ohnehin schon war.
„Hey, Silver“, rief plötzlich eine altbekannte Stimme.
Silver drehte sich um und lächelte gequält. „Ich hätte wissen müssen, dass du mich hier erwartest, Martin.“
Ein älterer Mann kam auf Silver zu und legte ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter. Martin war mittelgroß, nicht dick, aber stämmig, mit kräftigen Armen. Sein Gesicht war wettergegerbt und wirkte gutmütig, sein Haar war ein wenig zerzaust und inzwischen fast vollkommen ergraut. Silver erinnerte sich allerdings noch gut an eine Zeit, in der es dunkelbraun gewesen war, seinem eigenen nicht unähnlich.
„Das ist also deine Heimat, von der du so geschwärmt hast?“, fragte Silver etwas ungläubig.
„Ja, das ist sie“, antwortete Martin mit seinem Jersey-Akzent, den Silver auch nach all den Jahren noch merkwürdig fand. „Angel City ist einfach einzigartig. Dieser Duft, diese Atmosphäre…“ Er lächelte selig. „Man muss diese Stadt einfach lieben.“
„Einzigartig, ja, das trifft es“, entgegnete Silver trocken. „Liebreizend. Ich musste fast kotzen, als ich da drin versucht hab‘ zu pissen. Und wenn wir weiter hier rumstehen und labern, nässe ich mich demnächst ein.“
Martin zuckte mit den Schultern. „Du hast dich kein bisschen verändert“, stellte er nüchtern fest. „Mein Club liegt nur ein paar Blocks weit entfernt, da kommen wir locker zu Fuß hin.“
Silver blickte seinen alten Freund argwöhnisch an. „Zu Fuß? Wahrscheinlich werden wir nach den ersten hundert Metern ausgeraubt und umgebracht. Oder wir ersticken wegen dem Mief. Ich ess’ nie wieder Fisch.“
„Und wenn schon. Wo bleibt denn sonst der Spaß im Leben?“, erwiderte Martin fröhlich.
In der Tat war Martins Club nicht sehr weit entfernt, allerdings war es glücklicherweise genug Abstand zu den Hafenanlagen, um den penetranten Fischgeruch auf ein Minimum zu reduzieren. Das Etablissement, Martin hatte es, weshalb auch immer, das Blue Ray genannt, wirkte wie ein ganz gewöhnlicher Club. Es war in einem recht alten und relativ großen Haus untergebracht, dessen Fassade einige Jugendstilelemente auswies. Allerdings blätterte der cremefarbene Anstrich bereits ab, sodass einige sehr hässliche Graustellen zu sehen waren.
Über der Eingangstür prangte ein großes Leuchtschild mit der Aufschrift „Blue Ray“, das im Moment allerdings nicht eingeschaltet war.
Martin ging am Haupteingang vorbei in einen relativ engen und düsteren Innenhof, holte einen Schlüssel aus seiner Tasche und schloss eine schlichte, aber massive Holztür auf und durchschritt sie.
Silver folgte seinem alten Freund ins Innere des Gebäudes und zog die Tür hinter sich zu. Martin hatte inzwischen das Licht angemacht, sodass Silver nun sehen konnte wo er sich befand: In einem Treppenhaus. Martin war bereits vorausgeeilt und Silver bemühte sich nun, die Treppe möglichst schnell hinaufzukommen, da der Druck auf seiner Blase kontinuierlich zunahm.
Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte Silver endlich eine weitere Tür, die in Martins Privatwohnung führte, die über dem Club lag.
Das Appartement des alten Mannes war recht schlicht; dunkles Holz dominierte, es gab viele alte, aber durchaus gemütliche Möbel und einen Kamin, in dem allerdings gerade kein Feuer brannte. Das einzige wirklich hervorstechende Merkmal der Wohnung waren die vielen Waffen; über dem Kamin hing eine mächtige Armbrust und an den Wänden waren alle möglichen Schwerter, Säbel, Äxte, Hellebarden und Streitkolben aufgehängt.
„Nett hast du’s hier“, meinte Silver. „Wo ist das Klo?“
„Da hinten.“
Nachdem Silver sich erleichtert hatte, setzte er sich zu Martin an den Tisch.
Der Ältere hatte bereits eine Flasche Whiskey geöffnet und sich und Silver eingeschenkt.
„Also, erzähl mal, warum bist du hier auf der anderen Seite des großen Teiches. Habt ihr im alten Land nichts mehr zu tun?“
„Hat dich die Schwarze Flamme nicht instruiert?“, erwiderte Silver.
„Doch hat sie. Auf ihre übliche Weise. Sehr kryptisch“, antwortete Martin, während Silver einen großen Schluck nahm.
„Igitt“, ächzte der Jüngere, „was ist denn das für eine Pisse.
„Bourbon“, lächelte Martin. „Man gewöhnt sich dran.“
Angewidert schob Silver das Glas von sich weg. „Hast du keinen Jack Daniel’s?“
Martin schüttelte den Kopf und steckte sich eine Zigarette an. „Also?“, fragte er.
„Du erinnerst dich doch sicher an diese Sache in Antakya, oder?“
Der Ältere nickte bedächtig. „Unschöne Geschichte, nach allem, was man so hört. Bin froh, dass ich nicht dabei war.“
Silver lächelte grimmig. „Wir haben damals den Dämonenkult zerschlagen. Zumindest haben wir das bis vor kurzem geglaubt. Bis es zu einem seltsamen Vorfall in New York kam, mit eindeutigen Indizien. Die Spur hat hier her geführt. Und da wir Jäger hier in Angel City und Umgebung sowieso sehr rar gesät sind und übernatürliche Aktivitäten hier stark zunehmen, meinten sie, dass ich gleich einen Außenposten gründen könnte. Mein Gepäck kommt demnächst per Luftpost. Hast du eine Ahnung, wo ich wohnen könnte?“
„Für den Anfang kannst du hier schlafen, bis du was gefunden hast, das dir zusagt“, entgegnete Martin.
Silver ließ seinen Blick nachdenklich über die Wände wandern. „Wenigstens hast du genug Waffen.“
„Du hast ja keine Ahnung, mein Freund. Keine Ahnung.“
„Ah, wir werden ominös“, meinte Silver mit gekräuselten Lippen.
„Eine der Freuden des Alters.“ Martin blies Silver Rauch ins Gesicht, so dass dieser angewidert das Gesicht verzog. „Also“, wollte der Ältere wissen, „wen schicken sie noch?“
„Rhino“, antwortete Silver. „Rhino Sources. Er kommt auch von hier“, fügte er auf Martins fragenden Blick hinzu. „Anfang der Neunziger haben ein paar Jäger wegen eines Werwolfs der Stadt einen Besuch abgestattet und ihn vom Fleck weg rekrutiert. Und ansonsten“, der Jüngere zuckte mit den Achseln, „keine Ahnung. Man erwartet wohl, dass ich mich nach neuen Rekruten umschaue.“
„Ja, das ist typisch“, entgegnete Martin wissend. „Apropos, ich glaube, du solltest meine Barfrau mal kennen lernen.“
Nachdem die Sonne untergegangen war, musste Silver feststellen, dass sich die Stadt verändert hatte. Er wusste nicht so recht, ob es mit der Dunkelheit oder den etwas eigentümlichen, orange glühenden Straßenlaternen zusammenhing, oder ob es schlicht die Tatsache war, dass er sich nun in der Innenstadt und nicht mehr am Hafen befand.
Auf jeden Fall besaß Angel City bei Nacht eine merkwürdige, schwer fassbare Schönheit; eine düstere und bedrückende Anmut, die mit den zugleich kunstvollen und erschreckenden Wasserspeiern und gotisch anmutenden Wolkenkratzern zusammenhing. Eine Schönheit, wie sie ein Edgar Allan Poe oder Howard Phillips Lovecraft empfunden hätten. Unglücklicherweise konnte er mit beiden Autoren nicht allzu viel anfangen, da ihre Werke ihn zu sehr an seine Arbeit erinnerten.
Wenn man allerdings genauer hinsah und sich von den viel besuchten und befahrenen Hauptstraßen abwandte, verschwand diese Schönheit sehr schnell. In den kleineren Gassen und Hinterhöfen zeigte sich abermals das wahre Gesicht der Stadt in Form von Graffitis, Huren, verkommenen Absteigen, Obdachlosen und umgeworfenen Mülleimern.
Nachdem er sein Gepäck, das aus New York nachgekommen war, abgeholt hatte, hatte sich Silver aufgemacht, um sich ein genaueres Bild von der Stadt zu machen, in der er demnächst arbeiten würde. Eine Spur der Kultisten hatte er noch nicht gefunden, allerdings hatte er das auch nicht wirklich erwartet und ernsthaft gesucht hatte er auch nicht. Bevor Rhino nicht eingetroffen war und er noch ein wenig Rückendeckung hatte, war es sowieso völlig sinnlos, in die Schlacht zu ziehen. Silver hoffte inständig, dass die Schwarze Flamme weitere Leute schicken würde, denn wenn er nur Rhino und Martin hatte und alle weiteren benötigten Leute hinzurekrutieren musste, würde die Angelegenheit noch sehr lange dauern, und das ging ihm gegen den Strich. Die Abneigung gegen Angel City war trotz des etwas veränderten nächtlichen Bildes nicht abgeklungen.
Wer weiß, was hier sonst noch sein Unwesen treibt, überlegte er, während er an einer Hauptstraße entlang schlenderte und eine leere Coladose vor sich her kickte. Angel City riecht geradezu nach übernatürlichem Scheiß. Ob es hier wohl andere Jäger gibt?
Diese Frage beschäftigte ihn schon länger. Wenn er schon hier arbeiten musste, hoffte er inständig, dass die Leopoldgesellschaft hier keine Zelle unterhielt. Obwohl die Schwarze Flamme streng genommen eine Untergruppe der Leopoldgesellschaft war, gab es gewisse Uneinigkeiten. Die Leopoldgesellschaft war der direkte Nachfolger der Inquisition und verhielt sich auch genauso. Natürlich wurden in der Öffentlichkeit keine Hexen mehr verbrannt, aber die Inquisition hatte ihren Kampf gegen das Übernatürliche nie aufgegeben. Im Zeitalter von Flugzeugen und Mobiltelefonen ging sie allerdings ein wenig subtiler zu Werke. Was aber nichts an der Tatsache änderte, dass sie immer noch vorwiegend aus engstirnigen religiösen und vollkommen humorlosen Fanatikern bestand. Und mit solchen Leuten konnte man einfach nicht arbeiten.
Natürlich gab es die Leopoldgesellschaft eigentlich gar nicht, genau genommen bestand sie aus einem ganzen Haufen kleinerer Orden, so wie die Schwarze Flamme einer war. Aufgrund ihrer etwas liberaleren Einstellung hatten die Mitglieder der Schwarzen Flamme bei den anderen Orden keinen besonders guten Ruf. Im Gegensatz zum Rest der Inquisition glaubte die Schwarze Flamme nicht, dass übernatürlich automatisch böse und teuflisch bedeutete. Man war der Meinung, dass man Feuer durchaus mit Feuer bekämpfen durfte. Diese Ansicht war einer der größten Trümpfe der Schwarzen Flamme; ihre Agenten konnten Magie mit Magie begegnen und mussten sich nicht auf Glauben verlassen. Natürlich war diese Magie weder besonders kompliziert noch besonders tiefgehend, aber doch äußerst nützlich bei der Aufspürung und Vernichtung übernatürlicher Feinde.
Ein einzelner Regentropfen riss Silver aus seinen Gedanken. „Auch das noch“, murmelte er. Es war wohl Zeit, zu Martins Club zurückzukehren. Für heute Abend hatte er ohnehin genug gesehen. Das Blue Ray musste inzwischen geöffnet haben und Martin hatte ihm sowieso geraten, einmal mit seiner Barfrau zu sprechen.
Als Silver bei Martins Club ankam, musste er feststellen, dass dieser anscheinend sehr beliebt war. Das Blue-Ray-Schild über dem Eingang leuchtete und blinkte in den passenden Farben und vor dem Eingang hatte sich eine lange Schlange gebildet. Zum Glück war Silver dem Türsteher bereits vorgestellt worden, sodass er nun keine Probleme hatte, in den Club hineinzukommen.
Wie nicht anders zu erwarten war die vorherrschende Farbe im Inneren blau. Laute, elektronische Musik dröhnte durch den Innenraum, der von einer großen Tanzfläche dominiert wurde.
Silver schlenderte auf die Bar zu und nahm die Frau, die dort bediente, in Augenschein. Sie war etwa so alt wie er, vielleicht ein oder zwei Jahre jünger und äußerst attraktiv. Sie hatte langes, dunkelbraunes Haar mit einigen blonden Strähnen und trug ein graues Tank Top sowie eine recht enge, schwarze Hose, die ihr mit Sicherheit allabendlich ein hohes Trinkgeld sicherte. Sie hatte einen neckischen Zug im Gesicht, der sie ein wenig frech wirken ließ, aber gleichzeitig dafür sorgte, dass sie noch anziehender wirkte.
„Schönen guten Abend“, sagte Silver höflich und setzte sich auf einen Barhocker.
„Hallo, mein Hübscher“, entgegnete sie. „Was darf’s sein?“
„Jack Daniel’s“, entgegnete Silver.
„He, Moment mal, bist du nicht dieser Kumpel von Martin? Wie war das noch gleich, Golden Star?“
„Silver Cross“, entgegnete Silver, nicht ganz sicher, ob er lachen oder sich aufregen sollte.
„Genau“, rief sie aus und reichte ihm seinen Drink. „Martin meinte, ich hätte Talente, die du suchst. Ich hoffe, du bist kein Zuhälter. So was mache ich nämlich nicht mehr. Obwohl ich dafür wirklich Talent hatte.“
Der Jäger lächelte. Das Mädel war ihm eindeutig sympathisch.
„Nein, ich bin kein Zuhälter“, erwiderte er. „Mein Job ist ein wenig, äh, ausgefallen. Ich bin so eine Art Privatdetektiv mit einem sehr ungewöhnlichen Spezialgebiet“
„Aha, Sam Spade junior“, witzelte sie. „Ich bin übrigens Alicia. Und wie kommst du zu diesem etwas ungewöhnlichen Namen?“
Silver zuckte mit den Schultern. „Ist irgendwie hängen geblieben“, sagte er ausweichend.
Alicia verstand den Wink und fragte nicht weiter nach. Stattdessen wollte sie wissen, welche Talente Martin denn nun gemeint hatte.
„Ich hatte gehofft, dass du mir das sagen kannst“, sagte Silver.
„Ich habe ein gewisses Talent darin, Leute aus Bars rauszuschmeißen, die zudringlich werden. Ich kann ganz gut mit Messern und Knarren umgehen. Und ich weiß, wie man sehr viele Kippen in sehr kurzer Zeit raucht.“
„Ich glaube mit dem zweiten kann ich etwas anfangen. Wenn du willst, nehme ich dich mal zu meiner Arbeit mit. Vorher muss mein Kollege allerdings noch hier ankommen.“
„Noch ein Privatdetektiv?“
„Gewissermaßen“, meinte Silver und leerte sein Glas.
„Nette Bude“, sagte Rhino, zog seinen Mantel aus und warf ihn achtlos in eine Ecke. Dann ließ er sich in einen von Martins Sessel fallen. „Was für ein Scheißloch von einer Stadt. Es ist schlimmer geworden, seit ich das letzte Mal hier war.“
Silver setzte sich neben seinen alten Freund und Kampfgenossen. Rhino hatte sich kein Bisschen verändert. Er hatte immer noch mächtige Schultern, trug sein rotbraunes Haar in einem Pferdeschwanz und sagte geradeheraus, was er dachte, und das mit einem äußerst hohen Anteil an Fäkalausdrücken pro Satz.
„Warum musste sich dieser Dreckskult ausgerechnet meine alte Heimatstadt aussuchen?“
Silver zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, aber ich bin dafür, dass wir sie möglichst bald fragen.“
„Ja, dann kommen wir nämlich möglichst bald wieder hier weg. Scheiße noch mal, alles ist besser als AC, sogar London.“
„Das könnte problematisch werden“, entgegnete Silver halb ernst, halb schadenfroh. „Die Schwarze Flamme wünscht nämlich, dass wir hier einen Außenposten aufmachen, der sich um das Viehzeug in der Gegend kümmert.“
„Die Schwarze Flamme kann mich am Arsch lecken“, meinte Rhino.
„Ist das dein Kumpel?“, fragte eine weibliche Stimme. Alicia betrat das Zimmer und musterte Rhino neugierig. „Ich wollte eigentlich nur kurz mit Martin sprechen.“
„Der macht gerade eine Besorgung“, erklärte Silver.
Rhino ließ seinen Blick über die Barfrau wandern und blieb schließlich an ihrem Ausschnitt hängen. „Vielleicht überleg’ ich es mir noch mal“, murmelte er.
„Scheint ja ein netter Kerl zu sein. Willst du uns nicht vorstellen, Silver?“
„Rhino, das ist Alicia. Sie arbeitet für Martin und könnte uns behilflich sein. Alicia, das ist Rhino, mein Kollege“, sagte Silver gelangweilt.
„Hallo, meine Schöne.“ Rhino schoss abrupt aus seinem Sessel hoch.
„Angenehm“, erwiderte Alicia, ohne eine Miene zu verziehen. „Vielleicht kannst du mir ja sagen, als was ihr arbeitet. Dein Freund ist da sehr kryptisch. ‚So einer Art Privatdetektiv…’“
„Wir sind eine Splittergruppe der römischen Inquisition, die sich um bösartige Übernatürliche, Infernalisten und anderes, ähnlich geartetes Gesocks kümmert“, antwortete Rhino, als hätte er einen Text auswendig gelernt.
Die Miene der jungen Frau blieb immer noch unbewegt. Wahrscheinlich, überlegte Silver, weil sie nicht weiß, ob sie lachen oder weggehen soll.
Langsam wanderte ihr Kopf zu Silver, als erwartete sie eine Erklärung von ihm.
„Ich wollte dich eigentlich langsam zu diesem Thema hinführen“, meinte dieser mit unschuldiger Stimme, „aber das trifft es eigentlich ziemlich genau.“
Ungläubig zog sie eine Augenbraue hoch. „Warum gerate ich immer an die Irren?“
„Tust du nicht. Ich bin bei vollem Verstand. Was man allerdings von Rhino nicht sagen kann.“
„Vielen Dank auch“, rief Rhino dazwischen und setzte sich wieder in seinen Sessel.
„Ihr wollt mir also tatsächlich weismachen, dass ihr die Ghostbusters seid?“
„Nicht wirklich. Meistens ist unsere Arbeit nicht sehr komisch. Zwar treffen wir zum Beispiel nur sehr selten auf Werwölfe, weil die meistens in Ruhe gelassen werden wollen, aber wenn wir uns mal mit ihnen anlegen müssen, ist das äußerst unangenehm. Frag Rhino, der kann ein Liedchen davon singen.“
„Amen Bruder.“ Der sitzende Jäger zog mit einer flinken Bewegung seinen schwarzen Pullover aus und entledigte sich anschließend der schusssicheren Weste, die er darunter trug. Seine muskulöse Brust war von ein paar gewaltigen Narben gezeichnet, die aussahen, als stammten sie von etwas, das die Größe eines Grizzlybären hatte.
„Autsch“, kommentierte Alicia unwillkürlich.
„Das kannst du laut sagen, Mädel. Ich hab’ geblutet wie ein abgestochenes Schwein.“
„Werwölfe also… Und was noch? Geister? Vampire? Dämonen?“
„Geister kommen hin und wieder mal vor, aber die sind meistens eher unproblematisch. Lassen sich recht gut austreiben oder sind keine Bedrohung.
Vampire“, Silver dachte kurz nach, „ich weiß, dass es sie gibt, aber ich bin noch nie einem begegnet. Hin und wieder kommt uns mal einer vor die Flinte, den wir dann auch wegpusten. Die Inquisition hatte früher massive Probleme mit ihnen, aber dann sind sie irgendwie untergetaucht. Wahrscheinlich gibt es nicht mehr allzu viele.
Dämonen sind unser wirkliches Problem. Wobei es sehr selten vorkommt, dass wir es mal wirklich mit einem leibhaftig zu tun bekommen. Aber ihre Kulte sind die reinste Pest. Infernalisten, Satanisten, das ganze Pack. Und genau wegen denen sind wir hier her gekommen.“
Alicia wirkte nicht überzeugt. Aber es hätte Silver auch gewundert, hätte sie ihm einfach ohne weiteres geglaubt.
„Wir nehmen dich einfach mal auf einen unserer Ausflüge mit“, bot Silver an. „Wir brauchen sowieso jemand bei uns, der sich in der Stadt auskennt.“
„Aha“, sagt Alicia langsam. „Und…wie findet ihr eure Satanisten?“
„Nichts leichter als das.“ Silver sah sich in der Wohnung um, bis er eine Zeitung sah, die auf einer Kommode lag. Er nahm sie zur Hand und blätterte in ihr herum, während er weiter sprach: „Ungeklärte Mordfälle, verschwundene Leute. Die meisten Infernalisten sind nicht gerade subtil. Aha“, er nahm eine Doppelseite heraus und breitete sie triumphierend aus.
„Ungeklärtes Blutbad in alter Lagerhalle am Hafen“, las er laut vor. „Sie vermuten die Mafia dahinter, haben aber keine Beweise. Grund genug, uns das mal anzuschauen.“
„Sehr behaglich“, kommentierte Rhino.
Silver warf einen Blick zu Alicia, auf deren Gesicht sich ein unbehaglicher Ausdruck ausgebreitet hatte, der wohl vor allem von der Polizeiabsperrung und den Blutspuren herrührte. Allerdings war die Lagerhalle im Allgemeinen nicht sehr gemütlich. Sie starrte vor Dreck und stank nach Fisch und Moder. Bis auf Trümmer und Müll war sie leer, die ausgeweideten Leichen, von denen in der Zeitung die Rede gewesen war, hatte man bereits weggeschafft.
Während Rhino sich die Holztrümmer in einer Ecke ansah, untersuchte Silver die Blutspuren auf dem Boden. Dabei registrierte er, dass Alicia immer nervöser wurde, von einem Bein auf das andere trat und auf ihrer Lippe herumkaute.
„Zum Glück“, sagte er zu ihr, „haben wir auch ein paar besondere Fähigkeiten auf dem Kasten.“
Alicia erschrak sich, kam dann aber näher an Silver heran. „Zum Beispiel?“, fragte sie ungläubig.
Silver zog eine Wasserflasche aus seinem Mantel, entledigte sich dann seiner Handschuhe und fasste in eine größere Blutlache, die noch nicht ganz vertrocknet war. Rhino hatte sich vom Holz inzwischen abgewandt und schaute ebenfalls gespannt zu.
Unter Alicias angewiderten Blicken leckte Silver das Blut von seinem Finger und schloss für einen Moment die Augen. Dann nahm er einen Schluck aus der Wasserflasche und spuckte den Inhalt seines Mundes so schnell wie möglich aus. Mit der Zeit gewöhnte man sich zwar ein wenig daran, aber besonders appetitlich war es trotzdem nicht. Er suchte in seinen Taschen nach einem Kaugummi, um den Blutgeschmack aus dem Mund zu kriegen, fand zu seinem Bedauern aber keinen.
„Igitt“, sagte Alicia. „Wofür war das gut?“
„Eklig, aber verdammt nützlich“, warf Rhino ein.
„Ich weiß jetzt“, antwortete Silver, „wie die Opfer gestorben sind. Das stand nämlich nicht in der Zeitung.“
„Und das bedeutet…?“
„Nun ja, die Mafia benutzt für gewöhnliche keine Elfenbeindolche.“
„Aber Satanisten tun das?“
„Bingo“, sagte Rhino. „Das ist doch schon mal eine erste Spur.“
Silver nickte zufrieden
***
Das flackernde Neonlicht und die auf den ersten Blick sterile Umgebung ließen Alicia frösteln. An wen war sie da nur geraten?
Dieser Silver mochte ja sympathisch und durchaus auch attraktiv sein, aber offensichtlich war er ein wenig durchgeknallt. Sie wollte ihm ja glauben, dass er ein Jäger von Dämonen und Werwölfen war, aber es war so…unglaubwürdig.
Der Einbruch in das Leichenschauhaus hatte das Fass schließlich zum Überlaufen gebracht. Alicia mochte Leichenschauhäuser schon aus Prinzip nicht. Dass sie sich nun illegal in einem aufhielt, verbesserte die Situation nicht wirklich.
Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust, um die Gänsehaut zu verbergen und wünschte sich, sie säße mit einer Tasse Tee vor ihrem Fernseher.
Währenddessen waren Silver und Rhino schon eifrig am Arbeiten. Die beiden schien das Ambiente überhaupt nicht zu stören.
Wahrscheinlich sind sie’s gewohnt, dachte Alicia.
„Ich hab einen“, rief Silver.
Er hatte eine der typischen „Schubladen“ aus der Wand gezogen und war gerade dabei, den Leichensack zu öffnen.
Alicia schluckte. Sie empfand eine merkwürdige Mischung aus Neugier und Abscheu. Was sollte das werden? Die beiden Herren hatten ihr nichts erklärt, und sie hatte sich nicht getraut nachzufragen. Nun blieb ihr nur, abzuwarten.
„Hmm“, machte Silver und betrachtete den halb entblößten Leichnam. Es handelte sich dabei um einen Mann von vielleicht 40 Jahren mit Schnauzbart. Er sah völlig durchschnittlich aus – bis auf die Tatsache, dass er mehrere Stichwunden in seinem Bauch hatte und dass sein Gesicht grässlich verzerrt war, ob vor Schmerz oder Angst war nicht zu sagen.
„Fang an“, forderte Rhino. „Ich will’s so schnell wie möglich hinter mich bringen.“ Zu Alicia gewandt flüsterte er: „Ich hasse diesen Teil. Was er gleicht macht ist…brrr.“
Das ermunterte sie nicht gerade. Widerwillig und doch neugierig blickte sie zu Silver und hätte mit allem gerechnet, nur nicht mit dem, was jetzt geschah.
Als wolle er einen schlafenden Kumpel aufwecken, verpasste Silver dem Leichnam rechts und links je zwei Ohrfeigen.
„Aufwachen“, sagte er mit langsamer und eindringlicher Stimme. „Ich brauche dein Wissen.“
Und zu Alicias Entsetzen öffnete der Tote tatsächlich seine Lider und blickte sich mit blutunterlaufenen Augen um, bevor er rasselnd Atem zu holen versuchte. Doch anscheinend nützte es nichts; auf seinem bleichen Gesicht spiegelte sich maßlose Verwirrung wider.
„Oh, mein Gott“, flüsterte Alicia.
„Ich dachte, ich wäre tot“, ächzte der Leichnam.
„Bist du“, antwortete Silver höflich. „Ich will nur ein paar Auskünfte, dann darfst du bis zum Jüngsten Gericht weiterschlafen.“
„Verdammt“, fluchte der Tote, „ich hatte gerade meinen Fernseher abbezahlt. Und dann kamen diese merkwürdigen…“
„Ja? Wer kam?“, fragte Silver schnell.
„Ich weiß nicht. Irgendwelche Satanisten oder so. Sie haben mich entführt und in einer alten Lagerhalle… Weißt du, wie das ist, wenn man dir ein Messer in den Bauch rammt? Mehrmals? Das tut verdammt weh.“
„Hör mal, Kumpel, ich will die drankriegen, die dir das angetan haben. Hast du zufällig etwas aufgeschnappt, das mir helfen könnte?“
Damit schien er das Interesse des Kadavers geweckt zu haben.
„Ja, warte mal. Einer von denen hat was von ‚Newman-Street 32’ gesagt. Das is’ in der Altstadt. Sonst gab’s hauptsächlich Kauderwelsch, den ich nicht verstanden habe. Dämonen, Fremdsprachen.“ Er zuckte mit den Achseln. „Bringst du sie um?“
„Vermutlich“, entgegnete der Jäger. „Es wird auf jeden Fall nicht angenehm für sie.“
„Gut“, meinte der Kadaver zufrieden.
„Vielen Dank für deine Hilfe, du kannst jetzt in Frieden ruhen.“
Fast augenblicklich wich das „Leben“ aus dem Körper und er sackte zusammen. Silver legte ihn zurück in die ursprüngliche Position. Als er den Leichensack zumachte, erhaschte Alicia einen letzten Blick auf das Gesicht des Toten: Seine Züge waren nun nicht mehr verzerrt, sondern deuteten ein zufriedenes Lächeln an.
Erst jetzt, nachdem die Leiche wieder da war, wo sie hingehörte, merkte Alicia, wie verkrampft sie die ganze Zeit über gewesen war. Sie atmete tief und erleichtert aus – seit ihrem „Oh, mein Gott“ hatte sie kaum Luft geholt.
„Glaubst du uns jetzt?“, fragte Silver lächelnd.
„Habe ich eine andere Wahl?“, entgegnete sie.
„Vermutlich nicht.“
In dieser Nacht konnte Alicia nicht schlafen. Wann immer sie die Augen schloss, erschien das Bild des sprechenden Kadavers. Eine Stunde lange wälzte sie sich herum, dann stand sie wieder auf und machte sich einen Tee, in der Hoffnung, er würde helfen. Im Nachhinein stellte sich das als schlechte Idee heraus, da sie in der nächsten Stunde noch mehrmals aufs Klo musste. Und selbst danach klappte es mit dem Einschlafen nicht, sodass sie schließlich vor dem Fernseher landete und zwischen Pornos, dämlichen Spielshows und den Wiederholungen alter Sitcoms hin und her zappte, bis sie irgendwann in einen unruhigen, von Alpträumen geplagten Schlaf verfiel.
Als sie am nächsten Morgen aufwachte, fühlte sie sich wie gerädert. Ihre Glieder taten weh, ihre Haare waren völlig zerzaust und sie war sich sicher, dass sie dunkle Ringe unter den Augen hatte. Ein Blick in den Spiegel offenbarte, dass es nicht ganz so schlimm war, und nach einer extragroßen Portion Kaffee und einer extralangen Dusche fühlte sie sich besser. Eigentlich gab es viel zu tun – die Steuererklärung musste gemacht werden, es gab schmutzige Wäsche und mit dem Zustand ihrer Küche war sie auch nicht sonderlich zufrieden. Doch Alicia konnte sich auf nichts konzentrieren. Die ganze Zeit überlegte sie, ob sie nicht einfach bei Martin kündigen und das Weite suchen sollte. Sie war ja sicher nicht zart besaitet und hatte so einiges erlebt, aber eine aufwachende Leiche war für ihren Geschmack ein wenig zu viel. Andererseits würde sie sich, wenn sie diese Idee in die Tat umsetzen würde, wahrscheinlich ihr Leben lang fragen, wie die ganze Geschichte ausgegangen war und ob sie nicht doch etwas verpasst hatte. Den ganzen Tag rang sie mit sich selbst, bis es langsam spät wurde und der Beginn ihrer Schicht näher rückte. Schließlich entschloss sie sich dazu, ganz wie gewohnt zur Arbeit zu gehen und darauf zu warten, was der Abend brachte.
Und in der Tat: Als die Schicht halb vorbei war, lehnte sich Silver lässig an den Tresen. Abermals fragte sich Alicia, wie um alles in der Welt er wohl dazu gekommen war, das zu tun was er tat. Wie konnte man sich nur freiwillig auf so etwas einlassen?
„Rhino und ich besuchen heute die Newman Street. Wenn du wieder mitkommen möchtest…“
Zu ihrer eigenen Überraschung sagte Alicia sofort zu, nur um sich während der nächsten Stunden über sich selbst zu wundern. Noch mehr beunruhigte sie dieses merkwürdige Gefühl der Aufregung, das sich langsam in ihr breit machte.
Nach ihrer Schicht traf sie sich mit Silver und Rhino beim Seiteneingang des Blue Ray. Ihr fiel sofort auf, dass die beiden bewaffnet waren. Sie mochten auch schon zuvor Waffen getragen haben, aber da war es ihr nicht aufgefallen. Der schwarze Mantel, den Silver trug, verbarg zwar das, was Alicia als Samuraischwert bezeichnen würde (auch wenn es sicher eine treffendere Bezeichnung gab), zwar größtenteils, aber eben nicht völlig. Rhino hingegen schien etwas Großkalibriges bei sich zu tragen, das Alicia ebenfalls nicht identifizieren konnte, da auch er einen Mantel trug. Während sie die beiden kurz musterte, verkniff sie sich angestrengt einen Kommentar über rote und blaue Pillen. Silver folgte ihren Blicken.
„Du hast gesagt, du könntest ganz gut mit Knarren umgehen“, meinte Silver. „Es könnte sein, dass du heute eine brauchst. Ich leih‘ dir meine Beretta.“ Der Jäger griff in seinen Mantel und reichte ihr besagte Waffe. In der Tat ging Alicia hin und wieder auf den Schießplatz. Vor allem früher hatte es sich als nützlich erwiesen, Leuten, die zudringlich wurden, ein, zwei Mal vor die Füße zu schießen. Aber Alicia hatte noch nie jemanden erschossen. Die Beretta kam ihr groß und irgendwie unförmig vor und sie wusste nicht, wohin damit, also steckte sie sie in ihre Jackentasche und hoffte, dass es nicht zu auffällig war. Andererseits, den Ordnungshütern würde wohl zuerst der Mann mit dem Schwert auffallen.
„Warum nachts?“, wollte Alicia wissen und dachte an diverse Filme, die sie gesehen hatte, in denen derartige Aktionen auch stets in der Nacht stattgefunden hatten – mit oft unangenehmen Ergebnissen für die Protagonisten.
Dieses Mal war es Rhino, der antwortete: „Tagsüber würden wir niemanden antreffen“, erklärte er ihr. „Die Drecksäcke sind allesamt Nachteulen. Aber wahrscheinlich treffen wir auch jetzt niemanden.“
Silver nickte zustimmend. „Die Arbeit eines Jägers besteht zu etwa achtzig Prozent aus langweiligen Nachforschungen und noch öderem Papierkram.“
„Und die restlichen zwanzig?“
Silver lächelte schief. „Horror, Blut und Feuer.“
Horror, Blut und Feuer. Wenn es einen Ort in Angel City gab, an dem wenigstens zwei dieser drei Dinge regelmäßig zu finden war, dann war es die Altstadt. Die reichen Mafiabosse mochten im noblen Four Leafs, das gerne als Bonzenviertel bezeichnet wurde, residieren, doch die Altstadt war die Arbeitsstätte. Hier waren die Drogenlabors, die halblegalen Wettbüros und die zwielichtigeren Bordelle für die Leute mit exotischeren Geschmäckern, die auf Angel Citys berühmter Rotlichtmeile keinen Platz hatten. Wer klug und anständig war, mied die Altstadt nach Einbruch der Dunkelheit. Aber dass Satanisten hier ihr Unwesen trieben wunderte Alicia nicht wirklich.
„Nettes Viertel“, kommentierte Silver, während sie mit einem Leihwagen (Silvers persönliches Fahrzeug wurde laut seiner Aussage nachgeliefert) durch die Straßen der Altstadt fuhren. Er parkte das Auto etwas weiter vom Zielort entfernt. Wie der Rest der Altstadt auch wirkte die Newman Street heruntergekommen und ungemütlich. Hausnummer 32 unterschied sich nicht groß von den Gebäuden links und rechts, mit einem Unterschied: Vor der Tür stand jemand. Glücklicherweise hatte besagte Person Silver, Rhino und Alicia noch nicht gesehen, weshalb sie sich problemlos in einer dunklen Einfahrt verstecken konnten.
„Ungewöhnlich“, bemerkte Silver flüsternd, nachdem er die Wache gemustert hatte, so gut das aus dem Versteck heraus und bei der zwielichtigen Beleuchtung eben ging.
Alicia nahm ihn ebenfalls unter die Lupe: Der Kerl war untersetzt, hatte lichter werdendes Kraushaar, trug eine schlecht sitzende Anzughose, ein nicht dazu passendes Sakko, hielt eine Maschinenpistole in der einen Hand, eine brennende Zigarette in der anderen und fror anscheinend ziemlich. In Alicia erwachte das Verlangen, sich ebenfalls eine anzustecken, aber das war zum gegenwärtigen Zeitpunkt freilich ziemlich unvernünftig.
„Was ist ungewöhnlich?“, flüsterte Alicia zurück.
„Der Typ passt nicht ins Bild. Riecht irgendwie nach Mafia. Und gefällt mir nicht. Rhino, würdest du?“
„Aye, aye.“ Rhino holte etwas aus seinem Mantel heraus, das verdächtig nach einem Blasrohr aussah. Der dazu passende Pfeil folgte sofort. Rhino wusste das Gerät zielsicher einzusetzen, der Wachmann brach zusammen, sobald der Pfeil sich in seinen Hals gebohrt hatte.
„Sehr viel praktikabler als ihn zu erschießen“, erläuterte Silver. „Und wir töten nicht, wenn es nicht unbedingt sein muss.“
„Amen“, fügte Rhino hinzu.
Das war doch beruhigend. Dennoch – und trotz der Anspannung – merkte sie, dass Silver ganz offenbar ziemlich gerne und auch ungefragt dozierte. Und sie merkte, dass ihr diese Eigenschaft ein wenig auf die Nerven ging.
Ins Haus gelangten sie problemlos, da die Wache die Tür offen gelassen hatte. Das Innere wirkte eng und schmuddelig, passend zur heruntergekommenen Fassade. Alicia sah sich um. Sie befanden sich in einem Vorraum, eine Treppe führte in den ersten Stock und eine Tür in die hinteren Zimmer. Durch die geschlossene Tür waren dumpfe Stimmen zu hören.
„…keine Ahnung, was das hier soll. Der Boss hat nur gesagt, wir solln aufpassen und nicht nach oben gehen. Na ja, wird schon wissen, waser macht. Solang‘s am Schluss Kohle gibt.“
Silver legte einen Zeigfinger auf die Lippen, drückte sich an die Wand und näherte sich der Tür, um kurz in die Hocke zu gehen und durchs Schlüsselloch zu spähen. In einer einzigen, fließenden Bewegung stand er wieder auf und hob drei Finger in die Luft.
„Hast du schon die neue Nutte vom Boss gesehen? Frisch aus Peru. Der würd ich’s gerne mal besorgen.“
Alicia drückte sich gegen die Wand. Sie hatte eine Ahnung, was jetzt kommen würde, als Rhino knapp nickte und sein Blasrohr wieder auspackte, zusammen mit zwei weiteren Pfeilen. Er postiere sich gegenüber von Silver und dann ging alles Schlag auf Schlag. Silver riss die Tür auf, duckte sich und Rhino verschoss seine beiden Pfeile in atemberaubender Geschwindigkeit. Dem dritten hieb Silver mit dem Griff seines Schwerts heftig gegen die Schläfe, und das alles, bevor die drei überhaupt Zeit zu einer angemessenen Reaktion hatten. Anschließend entnahm Silver ihren Schusswaffen die Munition und sammelte Klappmesser ein, während Rhino dem, den Silver ausgeknockt hatte, ebenfalls einen Pfeil verpasste. Schließlich durchsuchten die beiden noch die restlichen Räume des Untergeschosses, fanden aber niemanden. Alicia musste zugeben, dass sie beeindruckt war. Das alles wirkte auf sie einstudiert und professionell, wenn auch unorthodox. Und es überraschte sie sehr, dass ihr diese Exkursion irgendwie gefiel. Was auch immer die beiden gelernt hatten, Alicia wollte es auch können.
„So versichert man sich gegen unliebsame Überraschungen“, meinte Silver zufrieden und musterte dann nachdenklich die drei Bewusstlosen. „Noch mehr Mafiosi.“
„Zu Schade, dass diese Arschlöcher nicht in unser Raster fallen.“ Rhino schüttelte den Kopf. „Wenn Angel City immer noch so mafiaversucht ist wie früher…“
„Ist es“, unterbrach Alicia ihn. Ihre Stimme klang ein wenig kehlig, da sie schon lange nichts mehr gesagt und wohl zwischendurch das Schlucken vergessen hatte.
„War ja zu erwarten. Und trotzdem, leider nicht unsere Aufgabe. Schauen wir uns mal oben um.“
Silver nickte zustimmend. Die Treppe führte zu einem kahlen Raum, in dem es nichts außer einer weiteren Tür gab. Keine Geräusche drangen daraus hervor und ein Schlüsselloch, durch das man hätte spähen können, gab es auch nicht. Lediglich ein süßlicher und zugleich widerlicher Geruch lag in der Luft, den Alicia jedoch nicht einordnen konnte.
Nach einem stummen Seufzer legte Silver seine linke Hand auf den Knauf und die rechte auf den Griff seines Schwertes, während Rhino das hervorholte, was er unter seinem Mantel verbarg. Das Gewehr, das er nun in Händen hielt, erinnerte Alicia vage an eine Schrotflinte, wie man sie in Filmen über schießwütige Hinterwäldler oft sah, allerdings war dieses Exemplar schwarz und wirkte ziemlich modern. Dann war es wohl an der Zeit, die Beretta zu zücken, die Silver ihr überlassen hatte und sich, wie Rhino, so gut es ging außerhalb eines potentiellen Schussfeldes zu bringen.
Das Öffnen der Tür wurde nicht mit sofortigem Feuer begrüßt, lediglich der Geruch wurde sehr viel stärker und ein flackerndes Licht breitete sich aus. Alicia blickten in den Raum und ihr stockte der Atem, sie erstarrte regelrecht.
An der hinteren Wand befand sich etwas, das vage an einen Altar erinnerte, gesäumt von zwei großen, offenen Feuerstellen, die für das flackernde Licht verantwortlich waren. Davor saß ein Junge, gerade einmal vierzehn oder fünfzehn. Er war äußerst gutaussehend, hatte langes, schlohweißes Haar und marmorweiße Haut. Er trug lediglich eine weiße Leinenhose, die sich von seiner Hautfarbe kaum absonderte, sodass er wirkte, als sei er vollständig ausgebleicht. Lediglich an seinen nackten Füßen und Händen klebte Blut, das einen starken Kontrast zum Rest bildete. In der Mitte des Raumes stand die Quelle des merkwürdigen Geruchs: Eine altmodische Badewanne in der – Alicia spürte, wie ihr die Galle hochkam – Blut und Gedärme schwammen. Mit jedem Moment schien der Geruch stärker und unerträglicher zu werden, jetzt, da sie wusste, wo er herkam. Erst im Nachhinein fielen ihr die beiden Kadaver in den Ecken des Raumes auf, die fachgerecht ausgeweidet worden waren, vermutlich von dem Jungen. Ein Blick zu Silver und Rhino offenbarte, dass auch die beiden geschockt waren, was sie ungemein beruhigte.
Der Junge kicherte amüsiert. „Ich habe euch kommen sehen.“
Wie er das wohl gemacht hatte? Dieser Raum hatte keine Fenster.
„Dummes Mädchen“, sagte er nun direkt an Alicia gewandt. „Ich brauche keine Augen, um dich zu sehen.“
Sie war eindeutig älter als er. Und woher wusste dieses Balg, was sie dachte?
„Rede nicht mit ihm“, flüsterte Silver ihr zu. „Was immer das auch ist, es ist ganz sicher kein Junge.“
„Kluger Rat“, sagte der Junge, dieses Mal an Silver gewandt. „Du riechst interessant. Ich glaube, du wirst meine Mahlzeit. Die anderen füllen die Organgrube, um die Meister zu beschwichtigen.“ Plötzlich sah er traurig aus. „Es ist nur ein jämmerlicher Ersatz, aber es muss genügen, bis die Herrin angekommen ist. Ihr werdet das natürlich nicht mehr erleben.“
Erst jetzt fiel Alicia auf, dass sie sich nicht bewegen konnte. Rhino schien ebenfalls höchst schockiert festzustellen, dass er nicht in der Lage war, einen Finger zu rühren. Silver dagegen begann sich zu bewegen, schwerfällig, aber er bewegte sich.
Das schien den Jungen aus dem Konzept zu bringen. Er schaute Silver schockiert an, stand langsam auf und dann…bewegte er sich beinahe schneller, als Alicia erkennen konnte, warf Silver, bleckte Fangzähne und rammte sie in den Hals des Jägers.
Also doch Vampire, dachte Alicia. Ich wusste es!
Blut sprudelte, Silver ächzte auf, ließ die Prozedur jedoch nicht lange mit sich machen. Irgendwie schaffte er es, den Jungen zu packen und von sich zu werfen. Er hatte nun kaum mehr etwas Menschliches an sich, denn wie ein wildes Tier krallte er sich an die Decke und fauchte. Seine Augen glommen nun rot.
Silver presste eine Hand auf die blutende Wunde und zog mit der anderen sein Schwert. Der Vampir sprang ihn erneut an und erwies sich dabei als zu agil und schnell für Silver. Obwohl der Junge nur mit Händen und Füßen kämpfte, steckte Silver Treffer um Treffer ein.
War sie nun verdammt, dem Kampf tatenlos zuzusehen, bis der Vampir Silver getötet hatte und sich ihr zuwendete? Nein. Sie konnte ihre Finger wieder bewegen. Sie ballte sie zur Faust, streckte sie wieder aus. Da musste noch mehr gehen. Vorsichtig versuchte sie, den Fuß anzuheben. Es war, als hingen Gewichte an ihren Schuhen, doch es war machbar. Langsam, ganz langsam testete sie jeden Muskel aus. Sie hob die Waffe, in unerträglicher, erzwungener Zeitlupe, erwischte einen günstigen Winkel und schoss. Die Kugel traf aus nächster Nähe den Hinterkopf des Jungen. Blut spritzte, doch er brach nicht bewusstlos oder tot zusammen, wie Alicia das erwartet hatte. Sie konnte sich zwar nun wieder normal bewegen, doch die Aufmerksamkeit des bleichen Monstrums galt nun ihr. Der Junge fauchte und wollte sich auf sie stürzen, doch Alicia leerte ihr Magazin in ihn. Jeder Schuss trieb ihn weiter zurück, und kurz darauf half ihr Rhino, bis der Vampir nur noch aus einer einzigen Wunde zu bestehen schien und röchelnd auf dem Boden verschied.
Sofort kümmerten sich die beiden um Silver, der sehr viel Blut verloren hatte und auch sonst nicht in der besten Verfassung war. Er musste dringend in ein Krankenhaus. Zu zweit packten sie ihn und zogen ihn hoch, um ihn von hier wegzuschaffen. Allerdings war er immer noch bei Bewusstsein und brachte sogar ein Lächeln zustande.
„Du bist eingestellt“, flüsterte er ihr zu. „Leute wie dich können wir gebrauchen.“
***
Der Junge schlug die Augen auf. Jedes Körperteil schmerzte fürchterlich, aber das war zu ertragen. Sie hatten ihm sein Unleben gelassen. Törichte Narren. Sie hätten dieses hässliche asiatische Schwert nehmen und ihn damit in kleine Stücke schneiden sollen. Nun ja, die Dummheit seiner Feinde war sein Vorteil. Man sollte doch meinen, dass die Sterblichen irgendwann dazulernten, aber das taten sie nie. Die aktuelle Operation war natürlich gescheitert, aber er hatte etwas viel besseres gewonnen, um dieses Versagen zu kompensieren. Er hatte das Blut dieses Jägers gekostet. Was für ein Saft. Der Jäger war kein gewöhnlicher Sterblicher. Er schmeckte fast wie ein Ghul, allerdings war da diese spezielle Nuance… Einem gewöhnlichen Kainiten wäre dies niemals aufgefallen, doch er war kein gewöhnlicher Kainit. Dieser Jäger war etwas ganz besonderes. Die Herrin würde erfreut sein…
Verfasst von Hemator, nach einer Idee von Jarik.